Neulich am Spielplatz: Von Helikoptereltern und Supermami-Bashing ODER Warum wir aufhören sollten übereinander herzuziehen

Spielplatz Helikoptereltern
Eltern am Spielplatz

Neulich am Spielplatz:
Während mein Zweijähriger ein paar Meter von mir entfernt versucht, allein den höchsten Kletterturm zu erklimmen, wird nebenan die mindestens vierjährige Leah-Viktoria von ihrem sehr besorgt wirkenden Vater auf die Rutsche begleitet, und – ich traue meinen Augen kaum – der etwas beleibte Papa quetscht sich anschließend tatsächlich hinter dem Töchterlein auf die Rutsche und bestreitet mit ihr gemeinsam die halsbrecherische 2 Meter lange Talfahrt, ungefähr im Tempo einer Nacktschnecke.
Während mein Kleiner mittlerweile triumphierend oben am Turm angekommen ist und vor Freude nahe am Abgrund auf und abzuhüpfen beginnt, was sogar mich dazu bewegt, mich schützend unter ihn zu stellen, höre ich ein gellendes „Um Gottes Willen, Marcel-Frederik!“ über den Platz schallen. Alarmiert blicke ich mich um, dem Tonfall zufolge muss eine kleine Katastrophe passiert sein, und tatsächlich: der kleine Marcel-Frederik hat doch anstatt der Reiscracker die Pombären entdeckt, die die Mutter für den elterlichen TV-Abend auf der Couch gekauft und offenbar nicht tief genug in der Buggytasche versteckt hat. Während Marcel-Frederik sich nun die Pombären genüßlich in den Mund stopft, steht der Mutter einerseits die Panik ins Gesicht geschrieben – die Erkenntnis: wahrscheinlich ist da ja sogar Palmöl drin! – sie sieht schon das Jugendamt vor der Tür stehen, von wegen Vergiftung und alles. Andererseits der Zwiespalt: dem Kind lieber nicht die Packung wegreißen, dieser aggressive Akt könnte es womöglich traumatisieren und maßgeblich in seiner weiteren Persönlichkeitsentwicklung hemmen.
Inzwischen verdrückt mein Sohn ein paar Weintrauben und bietet ein paar davon Leander-Lucian an, der mit ernster Miene erklärt, sowas esse er nicht, da wäre ja urviel Zucker drin und das sei seeeehr ungesund. Aus den Augenwinkeln beobachte ich Leander-Lucians Mama, die so tut als würde sie in ihrem Ratgeber über selbstbestimmtes Schlafen bei Kindern schmökern, in Wirklichkeit aber genau zugehört hat und zufrieden vor sich hinlächelt.
Während Ruben-Benjamins Mutter ihrem barfüßigen Sohn mit den Socken in der Hand wild-fuchtelnd nachrennt (es hat übrigens 25 Grad im Schatten), Maja-Edeltrauts Oma hektisch mit Feuchttüchern über das gesamte Gesicht des brüllenden Babyenkels wischt, als würde jederzeit einsetzende Krätze drohen, und der Vater von Jona-Friedrich dem 3-Jährigen mit geduldiger Stimme lang und breit erklärt, warum er dienstags besser zum rhytmischen Bodenturnen anstatt zur Kreativ-AG gehen sollte, sitzt mein kleiner Rabauke selbstvergessen in der Sandkiste, überschüttet sich mit Gatsch und ich frage mich, ob ich nicht ganz schnell mit ihm hier weg sollte, bevor hier noch jemand guten Einfluss auf mein Kind nehmen könnte oder  noch schlimmer: mich in ein Gespräch über die ergonomisch korrekte Einstellung des Sitzwinkels im Bugaboo, kindgerechte Aufbereitung von Nachrichten oder die unterschätzte Gefahr von der Schaukelaufhängung herabfallender Metallspäne verwickelt, die sich durch die Reibung lösen, ins Auge des schaukelnden Kindes fallen und dort eine böse Entzündung mit folgendem Hirnschlag auslösen könnten.

Oh, ich sehe sie schon vor mir, diejenigen, die jetzt herzhaft lachend und zustimmend nickend vor ihren Bildschirmen sitzen, beinahe geifernd, über ihre Tastatur gebückt darauf lauernd, endlich ihren Kommentar abgeben zu können: die Mamas der Ronja-Lieselottes, die der Meinung sind, es wäre keine echte Kindheit, hätte man sich nicht mindestens einmal einen komplizierten Unterarmbruch zugezogen, wegen dem man die ganzen Sommerferien über nicht ins Freibad gehen durfte. Carl-Uwes Papa, der romantisch-verklärt in Erinnerungen darüber schwelgt, wie er als kleiner Stöpsel völlig unbeaufsichtigt mit einer Gruppe anderer 10-Jähriger ganze Flüsse durchschwommen hat – quasi Mutprobe. Kilometerweit hätte es ihn abgetrieben, und er musste alles wieder zu Fuß nach Hause gehen, haha, DAS war halt noch Freiheit.
Shayenne-Deborahs Mutter scheint geradezu stolz darauf zu sein, es geschafft zu haben, dass das Töchterchen sich hauptsächlich von Fischstäbchen und sauren Apfelringen ernährt, im Gegensatz zu diesen tofuverrückten Gesundheitsapostelmütter mit ihren Kia-Tschia-Dingsbumssamenpuddings.
Da wird darüber schwadroniert, was Kinder früher alles durften, warum damals sowieso alles besser war, wie furchtbar diese Helikoptereltern heutzutage wären, und außerdem wird gerne und oft der Lieblingssatz strapaziert: Wir leben ja schließlich auch noch. Oder nicht?!?

Oh ja, richtig: WIR haben tatsächlich unsere Kindheit überlebt. Sonst könnten wir hier ja nicht so fleißig klugscheißen. Die, die vielleicht wirklich als Kind in einer kniehohen Pfütze ertrunken sind, sich an Listerien in Rohmilch vergiftet haben oder sich beim unglücklichen Sturz vom Baum das Genick gebrochen haben, haben dieses Privileg nämlich nicht mehr. Die kleine Katharina, die nach dem Verzehr des Nusskuchens bei ihrer Tante erstickt ist, da die liebe Verwandte dachte man müsse das mit den Allergien ja nicht so dramatisieren, kann heute als Erwachsene nicht kichernd darüber mitdiskutieren, wie lächerlich es ist, dass heutzutage kaum ein Kindergeburtstag ohne genauester Anweisungen bezüglich erlaubter Lebensmittel durch ach-so-anstrengende Eltern auskommt.
Und so dramatisch muss es ja auch gar nicht ausgehen: spätestens, wenn bei besagtem Kindergeburtstag der schwarzgelockte Nepomuk-Valentin über Bauchkrämpfe klagt und kurz darauf mit plötzlich einsetzendem Durchfall auf dem neu verlegten Teppichboden sitzt, gleichzeitig die sonst so niedliche Lara-Sophie im Zuckerschock die halbe Wohnung demoliert und der kleine Wendelin das Grillwürstl in die Blumentöpfe speibt, während der Gastvater bereits mit 2 Wildfängen in der Unfallambulanz sitzt, weil diese ohne zu zögern oder jegliche Gefahreneinschätzung  von der Gartenmauer gesprungen und im angrenzenden Stacheldraht gelandet sind, ja spätestens dann schwant es den superentspannten, „lasst-den-Kindern-doch-ihre-Kindheit“-predigenden Gasteltern so langsam, dass die Warnungen der angeblichen Helikoptereltern vielleicht doch nicht nur deren verqueren Spinnereien waren. Sondern dass Nepomuk-Valentin offenbar TATSÄCHLICH eine Glutenunverträglichkeit hat, Lara-Sophies Eltern ihr aus gutem Grund keinen Zucker erlauben, Wendelin, der entweder gar kein Fleisch oder höchstens das frische Bio-Fleisch vom Bauernhof des Vertrauens essen darf, extrem auf Glutamat in verarbeitetem Fleisch reagiert, und ADHS eventuell doch existiert.

Das haltet ihr jetzt für übertrieben? Auch nicht übertriebener als die Szenarien im ersten Absatz…
Warum ich hier den Spieß umgedreht habe, obwohl ich mich selber eher zu den „entspannten“ Müttern zähle, die einem explorierfreudigen 2-Jährigen nicht auf Schritt und Tritt folgen und neben frisch geschroteten Buchweizenflocken auch mal ohne schlechtes Gewissen ein Danyplussahne kredenzen?
Weil ich nur daran erinnern wollte, wie leicht es ist, über andere herzuziehen. Ja, tatsächlich kann das richtig Spaß machen, es befriedigt unsere niedrigsten Triebe, und ich gebe es zu: auch ich hatte diebische Freude am Verfassen beider (!) Textteile.

Es ist ein Leichtes, beide Positionen extrem darzustellen. Aber letztendlich ist es doch so: genausowenig wie ein Fleischliebhaber von einem roh-vegan-lebenden Mitmenschen missioniert oder angegriffen werden möchte, ist es umgekehrt nicht okay auf selbigen Roh-Veganer loszugehen, indem man sich über ihn lustig macht. Vor allem dann, wenn ich diese Person und deren Beweggründe nicht oder zumindest nicht gut genug kenne.
Und wenn mich die Eltern von Jeremiah-Maximilian darum bitten, dem Kind bei seinem Besuch kein Obst zu geben, brauche ich das weder zu kommentieren noch zu bewerten, sondern halte mich einfach aus Respekt daran. Genauso, wie ich einem Vegetarier, der zum Grillfest kommt, nicht absichtlich ein blutiges Steak auf den Teller knalle, dem gläubigen Muslim kein in Schweineschmalz gebratenes Gemüse reiche oder jemandem, der mir erzählt hat er möge keine Tomaten, den Caprese-Salat vorsetze, nur weil ich seine Abneigung gegen Tomaten dämlich finde. Das gebietet mir doch schlicht und einfach der menschliche Anstand.

Und wenn Eltern, die selbst als Kinder schlechte Zähne hatten und die schlimme Erinnerungen an frühe Zahnarztbesuche quälen, das ihrem Kind gerne ersparen möchten und ihm daher auch mit 3 Jahren noch keinen Zucker geben – wenn ein Vater, dessen Bruder als Kleinkind durch die Windschutzscheibe geknallt ist, auf den Reboarder besteht und sich weigert, auch nur für 2 Kilometer ohne passenden Autositz mit seinem Kind in ein Auto zu steigen – wenn eine Mutter, die selbst als Kind  unter ständigen Bauchschmerzen gelitten hat, erfährt dass ihr Sohn ihre Laktoseintoleranz geerbt hat und sie ihn daher laktosefrei ernährt – dann, ja dann haben andere Menschen, die das anders halten, doch bitteschön ihren frechen Mund dazu zu halten.

Ja, man kann eine Meinung zu all dem haben, und ja, man kann dieses und jenes übertrieben finden, und ja, es darf auch mal überspitzt und lustig dargestellt werden – mir selbst wird ja nach meinem Blogartikel über Mama-Gruppen auf FB eine scharfe Zunge nachgesagt… aber auch damals ist mir bereits unangenehm aufgefallen, wie schnell in diversen Kommentaren der an sich in vielen Punkten auch selbstironisch gemeinte Artikel von anderen als Sprungbrett für hämisches Elternbashing missbraucht wurde. Und das hat dann schon nichts mehr mit humoristischer Aufarbeitung zu tun, sondern ist schlichtweg verletzendes Übereinanderherziehen. Also: auch wenn es manchmal noch so verlockend wäre, andere ins Lächerliche zu ziehen – vielleicht sollten wir mal vorher über uns selber nachdenken. Denn auch wir haben bestimmt genügend Verhaltensweisen und Eigenheiten, über die sich andere lustig machen könnten.
Ich z.B. hab so die komische Angewohnheit,… ach nein, ich verrat`s jetzt nicht – sonst sagt noch wer was Blödes 😉

3 Kommentare zu „Neulich am Spielplatz: Von Helikoptereltern und Supermami-Bashing ODER Warum wir aufhören sollten übereinander herzuziehen“

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